Jugendfreunde. Streben. Berlin

1803–1804

[118] Selten mögen einem Menschen so beglückte Lebensauen sich ausbreiten, als mir der nächste Zeitraum darbot, in welchen ich seit der Aufnahme im Cohenschen Hause, vom Ende des Maimonats bis tief in den Sommer hinab, mit allen Kräften und Entzückungen der Jugend jetzt einging! Durch mein Verhältnis fand ich mich grade nur insoweit gebunden, um Anhalt und Maß für das höchste Freiheitsgefühl zu haben, meine Pflichten bezeugten mir nur meine Selbständigkeit; ich genoß zum ersten Male die Vollempfindung des persönlichen Dastehens und Geltens. Was ich war, dachte, urteilte, wünschte und tat, rechnete mir niemand mit fremder Vorschrift in der Hand nach, suchte niemand durch äußere Rücksichten und Zwecke beengend niederzuhalten; meine Eigenschaften, die bisher gleichsam hinter ihrem Ertrag und ihrer Leistung hatten zurückstehen müssen, konnten nun als sie selbst hervortreten, mein eignes ungestörtes Wesen durfte mir Quell und Spiegel jedes Antriebs und jeder Handlung sein. Dieses Gefühl hätte in jedem Fall das Ergebnis meiner veränderten Lebensstellung sein können, daß ihm aber durch eine Dauer von Monaten eine nur stets gesteigerte Gewährung entsprach, war die Folge des glücklichsten Zuströmens von Begünstigungen, wie sie nicht oft sich vereinigen wollen!

Ich muß zuerst als eines wunderbaren Reizes, der in täglich erneutem Werte sich als unschätzbar erwies, der Lokalität, gedenken, welche nicht glücklicher sein konnte. Schloßartige Wohnung, weit über das Bedürfnis hinaus geräumig und vielfach, im Innern mit allem Behör einer behaglichen, teils holländischen, teils englischen Lebensart versehen, erhob sich, auch für den äußern Anblick bedeutend und geschmackvoll, zwischen tiefem Vorhof und ausgedehntem Garten. Von der Straße zurückgezogen, wandte sich das[119] ganze Leben des Hauses um so entschiedener nach der Gartenseite hin. Schattige Gänge, Rasenplätze, hochstämmige Bäume und mannigfaches Gebüsch, Blumenbeete, Obst- und Küchenpflanzungen, zuletzt ein Pavillon zwischen Treibhäusern gaben dem weiten Raume in sinniger Anordnung die heiterste Mannigfaltigkeit, und dieser grünende und blühende Bezirk gab jedem Tag und jedem Augenblicke die nahe, offne und lockende Gelegenheit zu dem reinsten Genusse, welcher das Herz erfreuen kann, zu dem Genusse der Jugend und des Sommers in ihrem schönsten Verein.

Während der ersten Zeit, bevor meine Zimmer eingerichtet waren, schlief ich nach dem Garten hinaus, in einem Saale, der als physikalisches Kabinett diente. Mit dem frühsten Tage, vom Glanze der bewegten Wipfel, von den Stimmen der Vögel, dem erquickenden Morgenhauche getroffen, stand ich lebensfroh auf, eilte in das tauige Grün, frühstückte dort oder am offnen Fenster des Bibliothekzimmers und hatte mit wechselndem Entzücken schon viel gelustwandelt und gelesen, wenn nach und nach das übrige Haus erschien und die Eltern ihren Geschäften und die beiden muntern Knaben dem Lernen noch erst im Freien eine dem ganzen Tage zugut kommende Frist gaben. Der hierauf beginnende Unterricht war für mich nur leicht; die Kinder hatten noch besondre Lehrer, auch für solche Gegenstände, in welchen ich recht gut hätte unterrichten können, und vorzüglich nahm die Übung in der Musik vor- und nachmittags mehrere Stunden ein. Zum Mittagessen, dem gewöhnlich wieder eine Erlustigung im Garten voranging, waren nicht selten Gäste eingeladen, nähere Freunde und Freundinnen des Hauses, auch wohl interessante Fremde. Die Unterhaltung, im allgemeinen gütig und heiter, durch einige Prätension des Hausherrn auch wohl zu besonderer Lebhaftigkeit gesteigert, pflegte sich unter Spazierengehen fortzusetzen, und nach abermaligen Arbeits-und Lernstunden rief, von sechs Uhr an, der freiste Nachmittag und Abend die Hausgenossen und etwanigen Besuch zum Lustwandeln,[120] Spielen, zu Gespräch und Teetrinken wiederum in den Garten, wo Zusammensein und Absonderung nach Belieben wechselte. Öfters zog ich mich zurück, um für mich allein zu lesen oder zu schreiben, und fand mich wieder ein, sobald eine neue Erscheinung mich anlockte. Ein glücklicher Verlauf schöner Tage, wie man sie auch spät noch wünschen möchte!

Ich war aber vor allem auf Erfüllung meiner neuen Pflichten bedacht und wollte diesem Berufe vollständig genügen, bevor ich den Zwecken eigner Förderung oder Neigung nachhinge. Ich entwarf einen schriftlichen Erziehungsplan, der mit ungeteiltem Beifall aufgenommen wurde; ich begann in Gestalt eines Tagebuchs allerlei pädagogische Notizen und Erfahrungen niederzuschreiben; diese Übung und das Lesen mancher empfohlener Werke, worunter auch Rousseaus »Emile«, gereichten mir zu großem Nutzen. Aufmerksam suchte ich die Wendungen des Lehrens und Mitteilens, wodurch richtige Auffassung und fester Eindruck am sichersten gewonnen wären; sorgfältig und teilnehmend schloß ich mich der kindlichen Sinnesart an, und ein freundliches Walten von Liebe und Vertrauen war der glückliche Erfolg. Da mir für mich selbst aber noch so viel zu erwerben und fortzusetzen oblag, so strebte ich, die Zeit, welche mir im Laufe des Tages und besonders am Anfange und Ende desselben reichlich gelassen war, so fruchtbar als möglich anzuwenden. Ohne Hülfe von Vorlesungen, deren regelmäßiger Besuch jetzt nicht möglich war, konnte mein medizinisches Studium nicht gedeihen; ich gab dasselbe nicht auf, aber schob es einstweilen beiseit und suchte dafür andre durch die Umstände nicht verschlossene, sondern wohl gar besonders eröffnete Wege um so besser zu benutzen. Ich legte es darauf an, die Haupttatsachen der Geschichte mir im Zusammenhang aufzureihen, sie in ihrer notwendigen Folge und Wechselwirkung einzusehen, und hatte hiezu, wie für begleitende geographische Studien, die schönsten Hülfsmittel zur Hand. Poesie und Literatur jeder[121] Art schlossen sich an; zu eignen Aufsätzen, Gedichten und besonders auch zu Briefen an Freunde, wobei Eberty mir am nächsten stand, fand sich immerfort Anlaß. Damit meiner Ausbildung noch besser nachgeholfen würde, unternahm es Herr Cohen, der seine Kenntnisse gern lehrend übte und zeigte, mit mir höhere Mathematik und englische Sprache zu treiben. Auf diese Weise schien ich beschäftigt genug und meine Zeit hinreichend ausgefüllt. Doch Fleiß und Freudigkeit leisteten in wenigen Stunden viel, die glücklichen Tage behielten noch weiten Raum, um andern Lebensinhalt aufzunehmen, andre Gebilde hervorzutreiben.

In dieser ersten Zeit war das Haus ungewöhnlich lebhaft, weil eine Schwester der Madame Cohen, die Baronin von Boye, dasselbe durch ihre gastliche Anwesenheit erfreute. Einem schwedischen Major verheiratet, der in Stralsund seinen Standort hatte, dachte sie ihm dorthin bald nachzufolgen, nachdem sie eben mit ihm aus Paris und dem südlichen Frankreich zurückgekehrt war und nur einige Wochen bei den Ihrigen in Berlin noch verweilen sollte. Diese Dame war gewohnt, die Huldigungen größerer und kleinerer Kreise auf sich zu ziehen, die glänzendste Welt hatte sie eben in vollem Maße genossen, früher auch das Beste von Bildung und Literatur sich fleißig angeeignet; dem vielleicht unzureichenden äußeren Reize gesellte sie gern die bedeutende Mithülfe der Gemüts-und Geistesregsamkeit, der vornehmen Eleganz und Eigenheit, und auch humoristische und geniale Wagnisse verschmähte sie nicht, um nur im Augenblicke voranzubleiben. Die Schwester war ihr mit treuer Freundschaft zugetan, mit höchstem Wohlgefallen die Mutter, Madame Bernhard, eine Witwe, die das Leben noch genießen wollte und ihren Reichtum deshalb gern aufwandte. Regelmäßig an den Sonntagen, aber auch außerdem nach Gelegenheit und Einfall, besuchte man letztere auf ihrem Landhause zu Charlottenburg, wo zahlreiche und zum Teil ausgezeichnete Gesellschaft die gastfreieste und üppigste Bewirtung fand. Die kurze Zeit,[122] welche Frau von Boye noch zu bleiben zugesagt, wurde bestens benutzt.

Fast kein Tag verging ohne Gesellschaft, teils in der Stadt, teils auf dem Lande. Graf Alexander zur Lippe, Professor Darbes, Graf Casa Valencia von der spanischen Gesandtschaft, die Hofrätin Herz, die herrliche Sängerin Marchetti-Fantozzi nebst dem italienischen Dichter Filistri lernt ich in diesem Kreise kennen; auch dem damals jugendlichen und geistesregen Adam Müller und der von ihm geführten Madame Sander, die als schöne Frau durch den Ruf mir schon bekannt war, begegnete ich hier zuerst, nicht ohne wechselseitige Anziehung.

Ein Fräulein von Sellentin, zwischen Alter und Jugend innestehend, hatte ihre besondere Geistesart, äußerte sich lebhaft und zeigte schon früh solche Eigenheiten, die man eine Zeitlang gern verzeiht, weil man sie belächeln darf, späterhin aber leicht unangenehm findet. Jüngere Frauenzimmer waren vorzüglich dem Cohenschen Hause angehörig und bedeutsam. Ich nenne zuerst Mademoiselle Seiler, eine zarte Schönheit, in erster Jugend bescheiden blühend, vortreffliche Klavierspielerin und als solche durch Unterricht dem Hause nützlich, war schon um der Musik willen gern gesehn und mit großer Sorgsamkeit behandelt; noch stärker aber wirkte die Neigung, welche Herr Cohen zu dem lieblichen Wesen kaum verleugnen mochte und durch tägliches Beisammensein nährte, wozu teils gemeinschaftliche Musikübung, teils Lehrstunden im Englischen den gültigsten Anlaß gaben. Karoline Lehmann, nachherige Gattin des berühmten Tonkünstlers Clementi, war gleichfalls ausgezeichnet musikalisch; sie kam gewöhnlich mit ihrer Mutter, oft aber auch allein, und hatte mit besonderer Zuneigung in Madanie Cohen eine mütterliche Freundin gesucht und zugleich eine für die Jugend noch, mit reinstem Sinn anteilvolle Vertraute gefunden; konnte man sie nicht gradezu schön nennen, so stand sie doch im frischesten und üppigsten Reiz aufgeblühter Jugend und ließ in munterer sowohl[123] als schwärmerischer Unschuld noch unendliche Zauberkräfte ahnden, in deren Wirkungsbereich man sich gern stellen oder doch hineindenken mochte. Die dritte, Henriette Hübschmann, Tochter einer vermögenden, durch kalten Weltverstand und satirische Bitterkeit nicht selten abstoßenden Mutter, war dagegen durch freundlich kluge Teilnahme und durch scherzhaften Witz einnehmend, der das regsame Persönchen allerliebst kleidete.

Gegen den Reiz dieser jüngeren Mädchen war ich genug befestigt; gleiche Anmut und Liebenswürdigkeit und größere Schönheit hatte ich schon verehrt, auch nahm ihr Wirken nicht grade mich zum Ziel. Mein Sinn war auf romantischen, poetischen Austausch, auf geistig gesteigertes Verhältnis gewandt, und mein Herz wollte sich nicht entzünden lassen, außer mit Beihülfe literarischer Glut; auch mußte dafür einiges Bemühen eintreten, um die im allgemeinen vorschwebenden Phantasieflüge an einen näheren bestimmten Gegenstand festzubannen. Für alles dies war von andrer Seite her überflüssig gesorgt. Frau von Boye hatte mich in meinen Anlagen und Richtungen leicht aufgefunden, und noch leichter wurde es ihr, mich ihre Vorzüge wahrnehmen zu lassen und mit ihnen vollauf zu beschäftigen. Eine schmeichelhafte Berücksichtigung tat mir um so wohler, als ich mit jedem Tage den Wert einer solchen Dame höher schätzen mußte, deren Gespräch mit allem Übergewichte der Weltbildung das Gebiet der Poesie durchflatterte und die nicht nur mit den Schriften, die ich am meisten verehrte, sondern auch mit den Autoren befreundet war, mit Jean Paul Richter, Friedrich Schlegel, Fichte, ja sogar mit dem wenig bekannten Meyern, dessen politischer Roman »Dya-Na-Sore« mich erst kürzlich mit erhabenen Entzückungen erfüllt hatte. Das Bedeutendste für mich aber war ihr während der Reise geführtes Tagebuch, in welchem alle Eindrücke der großen Erscheinungen aus dem Natur-, Gesellschafts- und Kunstleben, ja selbst die Gefühle eines bewegten Herzens, mit vieler Wärme niedergelegt waren.[124] Nur dem engsten Vertrauenskreise wurde dies Tagebuch in ausgewählten, gegen jede Störung gesicherten Stunden vorgelesen und dabei gleichwohl noch manches überschlagen. Zu solcher Begünstigung mitberufen zu sein, mußte ich mir hoch anrechnen. Herrschte bei diesen Mitteilungen das Sentimentale vor, so ließ bei andern Gelegenheiten die freieste Laune sich aus, die unschüchternste Lebendigkeit, welcher vollauf beizustimmen die andern bisweilen kaum den Mut hatten. In dergleichen Augenblicken rief sie einesmals ganz unerwartet unter vielen Anwesenden mich auf, meinend, mir sei auch noch zweifelhaft, was ich von ihr halten solle; ich aber faßte mich schnell und antwortete beherzt, ich wisse es recht gut und wolle es nötigenfalls beweisen. Bald nachher trennte sich die Gesellschaft, mich aber trieb es zu schreiben, und nach einer halben Stunde war eine Charakterschilderung fertig, die ich nach ungefährem Raten und Voraussetzen auf die herausfordernde Dame geschmiedet hatte; nach ihrem guten Beispiel entschlug ich mich schon der Schüchternheit und brachte das Blatt den Frauen, die größtenteils noch beisammen waren, gab es aber an Madame Cohen und bat, sie möchte zusehen, wiefern das Bildnis zu erkennen wäre. Nach dem ersten Durchblicken wurde das laute Vorlesen verlangt, und da ich es an Schmeichelhaftem und etwas Stechendem nicht hatte fehlen lassen, auch manche Züge wirklich getroffen und einige auf gut Glück versuchte Angaben zufällig die richtigen waren, so wurde des Wunderns und Rühmens sowie des Scherzes und der Fröhlichkeit fast kein Ende. Von dieser Charakterschilderung wurde weiterhin noch oft gesprochen, ich mußte erfahren, daß man sie als einen Beweis meiner großen Fähigkeiten ansah und daß man mich deshalb höher stellte, als man vorher getan. Die entschiedenste Wirkung aber übte das Blatt auf meine Bezüge mit Frau von Boye. Sie hatte schon bisher mich ausgezeichnet, jetzt tat sie es nur um so mehr und gleichsam von Rechts wegen; mit großem Ernst und gefühlvoller Emphase trug sie mir Freundschaft[125] und inniges Vertrauen an. Das letztere bewies sie mir alsbald dadurch, daß sie mir gestand, sie bedürfe meiner Mitwirkung und meines Einflusses, um auch abwesend in diesem Kreise manches nach ihrem bessern Sinne zu leiten und zu halten. Sie setzte mich deshalb sofort in Kenntnis von den innern Verhältnissen des Hauses, von dem Charakter ihrer Mutter, ihrer Schwester und ihres Schwagers und wie jeder zu behandeln sei. Hauptsächlich warnte sie mich vor dem letztern, der bei wenig Gehalt viele Schwächen und Eigensinn und besonders in scheinseliger Eitelkeit kein Maß habe. Ihre Schwester, welche für sich selbst genug treue Festigkeit, aber in betreff anderer nur zu leicht duldsame Nachgiebigkeit zeige, wünschte sie durch mich unterstützt und ebenso die Kinder gegen die Einwirkung des Vaters möglichst gestärkt. Dergleichen Mitteilungen, welche sogar absichtlich für Madame Cohen kein völliges Geheimnis sein sollten, versetzten mich in die seltsamste Lage, und indem sie mich einerseits zur vorsichtigsten Haltung und Klugheit nötigten, regten sie andrerseits mein Inneres zu den lebhaftesten Einbildungen und Ansprüchen auf, welche unter fortwährendem Nachschüren endlich als leidenschaftliche Empfindung aufflammen wollten.

Einen neuen Mitstrebenden entdeckte und gewann ich in einem jungen Manne, der im Cohenschen Hause von Kindheit an lebte, wie ein Sohn gehalten wurde und auf dem Komtoir beschäftigt war, aber sich außer den bestimmten Zeiten wenig sehen ließ und überhaupt in seiner schweigsamen Stille sich wenig bemerkbar machte, obgleich er für durchaus klug und kundig galt. Eines Tages führte zufälliges Gespräch uns näher zusammen, wir vertieften uns in Betrachtungen des Lebens und der Poesie, seine Verschlossenheit hielt gegen meine andringende Wärme nicht aus, er bekannte mir, daß auch er dichte, und wollte mir seine Erzeugnisse nicht vorenthalten. Seine Gedichte waren klar und empfindungsvoll, sie entzückten mich, und als ich den andern meine gemachte Entdeckung mitteilen, ihnen die[126] Verse wiederholt vorlesen durfte, wollte man das Wunder kaum glauben, vereinigte sich aber bald in Lob und Beachtung des aus seinem bisherigen Inkognito hervorgetretenen Dichters, und ich genoß die reinste Freude, in Wilhelm Neumann einen so würdigen als fähigen Freund erworben zu haben.

Neues Zuströmen erfolgte zu diesen schön anschwellenden poetischen und sentimentalen Fluten durch die Bekanntschaft, die mir nach einiger Zeit in Charlottenburg mit einem preußischen Offizier zuteil wurde, der, auf die ersten leisen, gleichsam freimaurerischen Zeichen einer solchen Brüderschaft, ebenfalls ganz unvermutet sich mir als Dichter enthüllte, und zwar als einer von der seltsamsten Art, die großenteils schon darin begründet lag, daß dieser deutsche Dichter eigentlich ein Franzose war. Herr von Chamisso hatte als Knabe mit seinen Eltern die Heimat beim Ausbruche der Revolution verlassen, war als Emigrierter nach Berlin gekommen, hier bei der verwitweten Königin als Page und darauf als Offizier im Infanterieregiment von Goetz angestellt worden und in diesem Verhältnisse geblieben, während seine Familie, gleich den meisten andern Emigrierten, denen es gestattet war, begierig das Vaterland wieder aufgesucht hatte. Den Franzosen konnte Chamisso in keinem Zuge verleugnen; Sprache, Bewußtsein, Sinnesart, Manieren und Wendungen, alles erinnerte an seine Herkunft, nur war sein ganzes Wesen dabei mit einer besondern, seinen Landsleuten sonst nicht grade eignen Ungeschicklichkeit behaftet, die doch vielfache Gewandtheiten und Fertigkeiten gar nicht ausschloß, sondern ihnen nur etwas Wunderliches zugesellte, woraus denn freilich allerlei hervorging, was er selbst oder andre als Unfall oder Übelstand zu tragen hatten. Seine langen Beine, die knappe Uniform, der Hut und Degen, der Zopf, der Stock und die Handschuhe, alles konnte ihm unvermutet Ärgernis machen; am meisten aber und sichtbarsten kämpfte er mit der Sprache, die er unter gewaltigen Anstrengungen mit[127] einer Art von Meisterschaft und Geläufigkeit radebrechte, welches er auch in der Folge zum Teil mit Vorliebe beibehielt. Er hatte deutsche Lieder und Elegien gedichtet, sogar einen »Faust« in Jamben angefangen, und ich hörte mit Staunen und Bewunderung, was er davon mit seiner zerquetschenden Aussprache, in einer Türe stehend und den Durchgang hemmend, mir aus dem Gedächtnis hersagte. Auch dieser Poesie wurde ich sogleich ein rühmender Verbreiter und alsbald des Dichters, der sich als der bravste Kerl von der Welt zu erkennen gab, vertrauter Herzbruder. Die deutsche Bildung und Sprache waren der Gegenstand seiner tiefsten Verehrung und Sehnsucht, und unsre Bestrebungen in diesem Gebiete arbeiteten seitdem in förderlichstem Verein. War aber sein Geist durchaus den Deutschen zugewandt, so hatte doch in seinem Herzen eine schöne Landsmännin den Vorzug behalten, welche durch Schicksale in das der Cohenschen Familie verwandte Edelingsche Haus zu Charlottenburg als Erzieherin verschlagen war; sie nannte sich Ceres Duvernay, hatte ein kleines Söhnchen bei sich und vereinte mit tiefer Schönheit eine seltne Bildung, wie sie denn Englisch und Italienisch vollkommen sprach und ebenso den Shakespeare und Tasso wie ihren Racine las. Ihre Auszeichnung und Lage deutete auf höhere, doch unglückliche Verwickelungen, deren Geheimnis aber, aller Forschungen ungeachtet, stets bewahrt geblieben.

Unser verstärkter Bund geriet nun in tätige Bewegung, wir bereicherten durch Austausch unsre Gefühle und Ansichten, teilten einander unsre Schriftsteller mit und suchten uns gemeinschaftlich zur Höhe der Literatur emporzuheben. Ich begann Klopstock, Voß und Wieland weniger festzuhalten, wiewohl ich sie nicht aufgab, sondern ihren schon zu sehr mißkannten Wert noch mit Glück behauptete, selbst einmal gegen Adam Müller, der mir auch Hölty, Salis und andre solche noch einräumen mußte. Dagegen stieg Schiller mächtig empor, und alle überragte mehr und mehr Goethe,[128] dessen Schriften und besonders »Wilhelm Meister« unsre Hauptbücher wurden. Die Paradoxen des »Athenäums« und die Sprüche des Novalis führte hauptsächlich Lippe bei uns ein, die Gedichte von Wilhelm Schlegel las ich still und laut zu vielen Malen. Neumann hatte sich manches von Tieck ersehen; Schleiermacher wurde genannt, ich erhielt seine »Monologen« durch Frau von Boye zum Geschenk, und dieser strenge, aber schwungvoll ausgedrückte wissenschaftliche Inhalt wurde mit dem lyrisch-sentimentalen des Hölderlinschen »Hyperion« als gleichartige Erquickung von uns Dürstenden genossen. Wir hatten alle erstaunlich viel zu lernen, und nicht bloß nach innen, sondern auch nach außen hin zu lernen, um unsrem geistigen Erschauen die erforderliche Unterlage zu geben, und dieses Lernen konnte für uns nur aus fortwährendem Erleben und Betreiben hervorgehen. Wir sahen einander bei allen Gelegenheiten; jeder sonst gleichgültige Besuch, jede Fahrt über Land, jedes Geschäft wurde uns bedeutend und fruchtbar, und wir waren weit entfernt, diese Bildungsschule unangenehm zu finden, sosehr wir deren Mängel in betreff der wünschenswerten gelehrten Kenntnisse und Übungen einsahen. Die Gesellschaft gewann durch diese geistige Bewegung zusehends an Leben und Reiz, und die Sprüche des paradoxen Erostes, die Einfälle der Laune und des Witzes fielen so reichlich ab, daß ich anfing, sie in ein kleines, zu diesem Zwecke gehaltenes, blaues Heft zu sammeln, wo besonders die wunderlichen und oft ungemein treffenden Schlagworte Lippes sich anhäuften. Frau von Boye behauptete in diesem Treiben ihre Stelle und war ihm nach Kräften förderlich, wiewohl schon mitunter einige Regungen zuckten, die wegen des Weitergehens bedenklich machen konnten; denn eine der ersten Wirkungen unsrer wetteifernden Tätigkeit mußte sein, daß wir gewahr wurden, wir seien bisher – wie in der Literatur so auch im Leben – allzu zahm und billig gewesen, und nun annahmen, wir dürften vieles keck als gemein und gering verwerfen, was wir bisher geachtet, und[129] müßten uns, um nicht als geduldige Hasenfüße zu gelten, als stößige Böcke gebärden. Die Schlegelschen Gesinnungen und Beispiele hatten viel Verführerisches für junge Leute, welchen, bei schon befestigter feiner Bildung, ihre abgetragenen Unarten als etwas doch vielleicht Geniales zum nochmaligen Wiederanprobieren noch nicht zu entfernt lagen. Aber wir hielten, gutgeartet und brav, uns bei allen Lockungen doch bescheiden genug.

In diese chaotische Gärung, aus der sich nach Zufall und ohne Ziel und Ordnung alles neu gestalten sollte, fiel uns zum Glück bald ein stärkendes Licht der Autorität, durch welche neben so vielem Schwankenden und Verworrenen auch wieder Festigkeit und Zusammenhang vor Augen stand. Ich lernte nämlich Fichten kennen. Frau von Boye, die ihn öfters besuchte, lud mich mit ihm zusammen in ihre Loge, um die »Braut von Messina« zu sehen. Späterhin sahen wir ebenso die Eugenie von Goethe. Mit Ehrfurcht huldigte ich dem tiefen und großen Charakter, mit Freimütigkeit forderte und bestritt ich seine Aussprüche, soweit meine Kräfte reichten. Er ließ mich freundlich gewähren und beschied mich wohlwollend in seine Wohnung. Hier sah ich einen Weisen, dessen Handlungen mit seinen Worten und Lehren eins waren und der vom Lichte der Gedanken wie von sittlicher Würde strahlte. Seine gedrungene, kräftige Gestalt und sein nachdruckvolles Reden mußten sich im ersten Moment dem Ohr und Auge unverlöschbar einprägen. Willig gab er mir Bedürftigem seine leitenden Ratschläge, ließ sich auf das Einzelne meiner Lage und meiner Studien mit mir ein, empfahl mir dringend das klassische Altertum, sagte mir gradezu, ich müsse vollständiger die Römer und gründlich die Griechen kennenlernen, zeigte mir Ziel und Weg, gebot strengen Wandel und eisernen Fleiß und wies mich dagegen für jetzt noch von aller Bemühung mit eigentlicher Philosophie entschieden zurück. Ich glaubte einen göttlichen Mann vor mir zu sehen, wenn er so sprach, die Gradheit und Redlichkeit leuchteten ihm[130] aus den Augen, und liebevolle Güte begleitete seinen erhabenen Ernst. Wenn seinen Ermahnungen ganz nachzuleben auch weder mein Sinn noch selbst die Gelegenheit erlaubte, so blieb doch dies Vorbild tief in meiner Seele, und ich nahm von Zeit zu Zeit immer wieder meine Zuflucht zu dem herrlichen Manne, der dann jedesmal mit Nachsicht und Kräftigung meinem guten Willen beistand. Auch Chamisso machte seine Bekanntschaft und erfuhr gleiche Einwirkung von ihm, die andern Freunde nicht minder, und für uns alle blieb fortan über allem trüben und irren Gewoge des Lebens dieser Stern in hellem Glanze leuchtend und leitend, zu dem wir zuversichtlich emporblickten, um uns zum Rechten und Wahren zu reinigen und zu stärken.

Die junge Mädchenwelt des Hauses Edeling, unter Obhut der schönen Erzieherin Duvernay, drang lebhafter heran und veranlaßte kleine Bewegungen; größere bewirkte die schöne Mariane Saaling, welche in Madame Cohen eine würdige Freundin ehrte und sie jetzt häufiger besuchte; der Eindruck dieses Mädchens war der einer jungen Göttin, und wer sie nur sah, mußte ihr huldigen; dies geschah von allen Seiten, von mir doch am wenigsten, der ich ihren Geist vielleicht zu gering anschlug, durch ihn wenigstens nicht angezogen wurde. Mehrere meiner Bekannten umseufzten sie förmlich als Liebhaber; das war mir sehr gleichgültig; grade mit einem ernstlichen Bewerber aber bekam ich ihretwegen fast Händel. Karoline Lehmann bekam ebenfalls um diese Zeit einen Bewerber, der uns allen ein Greuel war. Es war der alte Muzio Clementi, der durch sein Talent und seinen Reichtum stark empfohlen war und das junge mittellose Mädchen gleichsam zu erkaufen dachte. Die Eltern waren für ihn; das Mädchen, einer aufgeregten Neigung zu einem vornehmen jungen Manne schon im stillen entsagend, wankte nur noch zwischen jenem Beifall und der heftigen Mißbilligung, die wir Jüngern laut werden ließen und die in zweien von uns einen tiefern Quell hatte,[131] als wir andern vermuten konnten. Ein besondrer Jammer war es, daß auch die liebliche Seiler, gleich in ihrem ersten Frühling, einem tölpischen Bräutigam vorausbestimmt wurde, welchem ihr Vater Verbindlichkeiten hatte, die er durch seine Tochter ganz bequem abzutragen dachte. Die einzige, Henriette Hübschmann, erschien frei von Neigung und frei von drohenden Banden und erhielt sich noch eine Weile so, bis ihr später das Glück wurde, eine Heirat ganz nach ihrem Sinne zu treffen, wobei wenigstens das künftige Unglück, das sich auch hier nachgehends gewaltsam eindrängte, in der ersten guten Zeit völlig verborgen blieb.

Was wir in dieser Art vor Augen hatten, sowohl von geschlossenen als von noch zu schließenden Ehen, war nicht gemacht, uns von solcher Verbindung einen guten Begriff zu geben; im Gegenteil, die ganze Einrichtung, der nur Liebe und Achtung zum Grunde liegen sollte und die wir in allen diesen Beispielen eher auf alles andre gegründet sahen, wurde uns gemein und verächtlich, und wir stimmten schreiend in den Spruch von Friedrich Schlegel ein, den wir in den »Fragmenten« des »Athenäums« lasen: »Fast alle Ehen sind nur Konkubinate, Ehen an der linken Hand oder vielmehr provisorische Versuche und entfernte Annäherungen zu einer wirklichen Ehe, deren eigentliches Wesen nach allen geistlichen und weltlichen Rechten darin besteht, daß mehrere Personen nur eine werden sollen.« Auch der höhnische Übermut am Schlusse jenes Fragments, wo gesagt wird, es lasse sich nicht absehen, was man gegen eine Ehe à quatre Gründliches einwenden könnte, und daß der Staat die mißglückten Eheversuche nicht zusammenhalten, sondern vielmehr neue befördern solle, gefiel uns ungemein, und wir führten dergleichen ärgerliche Reden oft und auch zur Unzeit im Munde. Die schlechte Meinung aber von Heirat und Ehe blieb mir eingepflanzt, und bei allen Vorstellungen und Absichten, die ich meiner Zukunft aneignete, war der Gedanke, Bräutigam und Gatte zu werden, als ein lächerlicher und verkehrter gänzlich ausgeschlossen.[132]

Inmitten dieses jugendlichen Umgangs erfuhr ich doch die meiste Annäherung zu Madame Cohen, die als sorgsame Mutter und tüchtige Hausfrau höchst verehrungswert erschien und mit edlem Sinn und warmer Empfindung auch unsern Jugendlichkeiten Anteil und Nachsicht schenkte. Sie war durch die laute Schwester schweigsam gewöhnt, wenn sie aber sprach, vernahm man Wahrhaftes und Herzliches. Da Herr Cohen sowohl auf den Abendspaziergängen im Garten als bei den Musikübungen im Zimmer, wenn Mademoiselle Seiler zum Besuche da war, sich vorzugsweise mit dieser beschäftigte und absonderte, so fühlten wir andern uns um so zwangloser, sprachen und lasen, was uns gefiel, und so wurde zum Beispiel der ganze »Wilhelm Meister« von mir vorgelesen, wobei nur einigemal Neumann oder Lippe mich ablösten. Gegen den Hausherrn, der mit Goethe nicht zufrieden war, sondern an Wieland hielt und uns zuweilen auch seinerseits mit Vorlesungen aus »Agathon« oder »Aristipp« quälte, machten wir gemeinschaftlich eine wenig verhohlene Opposition, und er hatte den Verdruß, seinen Geschmack und sein Talent im eignen Hause am wenigsten gelten zu sehen; um so lieber wandte er sich damit an das schöne Kind, dem in Vergleich des bevorstehenden Loses die Bewerbungen eines solchen Mannes noch als geistreich und liebenswürdig gelten konnten. Madame Cohen, schon durch ihre Schwester in ein gewisses Vertrauen zu mir gestellt, konnte die augenscheinliche Lage der innern und äußern Verhältnisse mir nicht verhehlen noch leugnen wollen, die Erziehungsangelegenheiten forderten dringend mancherlei Vorkehr und Rücksprache, und es erfolgte aus allem diesen eine wahrhafte Freundschaft, gegründet auf Hochachtung und Zutrauen, die sich in späteren Stürmen und Unglückslagen nur verstärkt und stets erhalten hat.

Hier ist nun auch eines persönlichen Erscheinens zu gedenken, dessen erster Eindruck mir in jener Zeit wurde. Eines Abends, da Herr Cohen, einer leichten Unpäßlichkeit wegen, das Bette hütete und ich, danebensitzend, den zum[133] Tee Versammelten aus Wieland einiges vorlas, wurde Besuch gemeldet, und bei dem Namen entstand sogleich die Art von Bewegung, welche sich der Erwartung von Ungewöhnlichem und Günstigem verknüpft. Es war Rahel Levin oder Robert, denn auch den letztern Namen führte sie schon damals. Oft schon hatte ich sie nennen hören, von den verschiedensten Seiten her, und immer mit einem so besondern Reize der Bezeichnung, daß ich mir dabei nur das außerordentlichste, mit keinem andern zu vergleichende Wesen denken mußte. Was von ihr insonderheit Lippe und Frau von Boye mir gesagt, deutete auf ein energisches Zusammensein von Geist und Natur in ursprünglichster, reinster Kraft und Form. Auch wenn man einigen Tadel gegen sie versuchte, mußte ich im Gegenteil oft das größte Lob daraus nehmen. Man hatte von einer grade jetzt waltenden Leidenschaft viel gesprochen, einer Verbindung mit einem Spanier von der Gesandtschaft, Raphael Urquijo, die, nach den Erzählungen, an Größe, Erhebung und Unglück alles von Dichtern Besungene übertraf. Ich sah in gespannter Aufregung, den andern zum Lächeln, dem nahen Eintritte der Angekündigten entge gen. Es erschien eine leichte, graziöse Gestalt, klein, aber kräftig von Wuchs, von zarten und vollen Gliedern, Fuß und Hand auffallend klein; das Antlitz, von reichem schwarzen Haar umflossen, verkündigte geistiges Übergewicht, die schnellen und doch festen dunklen Blicke ließen zweifeln, ob sie mehr gäben oder aufnähmen; ein leidender Ausdruck lieh den klaren Gesichtszügen eine sanfte Anmut. Sie bewegte sich in dunkler Bekleidung fast schattenartig, aber frei und sicher, und ihre Begrüßung war so bequem als gütig. Was mich aber am überraschendsten traf, war die klangvolle, weiche, aus der innersten Seele herauftönende Stimme und das wunderbarste Sprechen, das mir noch vorgekommen war. In leichten, anspruchslosen Äußerungen der eigentümlichsten Geistesart und Laune verbanden sich Naivetät und Witz, Schärfe und Lieblichkeit, und allem war zugleich eine tiefe[134] Wahrheit wie von Eisen eingegossen, so daß auch der Stärkste gleich fühlte, an dem von ihr Ausgesprochenen nicht so leicht etwas umbiegen oder abbrechen zu können. Eine wohltätige Wärme menschlicher Güte und Teilnahme ließ hinwieder auch den Geringsten gern an dieser Gegenwart sich erfreuen. Doch kam dies alles nur wie schnelle Sonnenblicke hervor, zum völligen Entfalten und Verweilen war diesmal kein Raum. Kleine Neckereien mit Graf Lippe, der kürzlich bei ihr nicht war angenommen worden und des halb böse tun wollte, erschöpften sich bald; der ganze Besuch war überhaupt nur kurz, und ich wüßte mich eigentlich keines bestimmten Wortes zu erinnern, in welchem etwas ausgeprägt Geistreiches, Paradoxes oder Schlagendes sich zur Bewahrung dargeboten hätte; aber die unwiderstehliche Einwirkung des ganzen Wesens empfand ich tief und blieb davon so erfüllt, daß ich nach der baldigen Entfernung des merkwürdigen Besuchs einzig von ihm reden und ihm nachsinnen mußte. Man scherzte darüber, und weil der Scherz fast verdrießlich wurde, so trotzt ich ihm desto eifriger durch Niederschreiben eines Sonetts, das den empfangenen Eindruck begeistert schildern wollte und das ich die Dreistigkeit hatte, eben weil man sie mir bezweifelte, am andern Tage versiegelt abzuschicken, ohne daß ich weiterhin etwas von der Sache gehört oder ihr nachgefragt hätte. Rahel Levin selbst wiederzusehen war mir darauf jahrelang nicht beschieden. Ihr Namen aber blieb mir als ein ungeschwächter Zauber in der Seele, nur ahndete ich auf keine Weise, daß mit jenem frühen Begegnen und jenen vorlauten Zeilen ein erster Ring gefügt worden, an welchen viele folgende sich einst anreihen und die entscheidendste Wendung und die dauerndste Vereinigung meines Lebens geknüpft sein sollte.

Da August Wilhelm Schlegel zum Winter ästhetische Vorlesungen ankündigte, so ließen wir uns diese gute Gelegenheit nicht entgehen. Seine Übersicht der deutschen Dichtkunst in ihrer geschichtlichen Entwickelung und die[135] Beispiele, die er aus früheren Zeiten reichlich mitteilte, waren mir von großem Nutzen. In den Wust von einzelnen Kenntnissen und Ansichten, die ich nach Zufall aufgehäuft, kam mehr Ordnung und Zusammenhang, ich lernte auch für mein eignes Dichten festere Bahn betreten, und was zu vermeiden und zu erstreben sei, wurde mir klarer. Übrigens muß ich gestehen, daß Schlegel uns schon damals schien mehr Talent als Geist zu haben, und wenn ihm auch Neumann und ich noch großes Zutrauen widmeten, so wollte er doch den andern wenig mehr genügen, besonders Robert und Theremin sprachen geringschätzig von ihm, welches ich ihnen als Übermut anrechnete. Eine starke Stütze gab ihnen freilich das Urteil Fichtes, der einmal unumwunden erklärte, Tiefe fehle dem ältern Bruder und Klarheit dem Jüngern, gemeinsam sei ihnen beiden aber der Haß, welchen sie allerdings gegen das Gemeine hätten, und die Eifersucht, die sie gegen das Höhere empfänden, welches sie weder zu sein noch zu leugnen vermöchten und daher aus Verzweiflung übermäßig lobten, so ihn selbst und Goethen. Unwillkommen schlossen solche Äußerungen mir das zerrüttete Innere von literarischen Zuständen und Verhältnissen auf, die ich für die reinsten und einträchtigsten gehalten hatte. Allein mir schien, daß auch der Eigenheit Fichtes etwas nachzusehen sei, und ich wollte daher die Sachen nicht ganz so schlimm glauben, als er sie aussprach, und am wenigsten könnt ich den andern zugestehen, ihrerseits so zu richten und zu verdammen, wie dies etwa Fichte tun durfte, weil er eben Fichte war.

Um bei so vielfacher Trennung, die uns bevorstand, durch ein äußeres Zeichen auch in der Ferne uns verbunden zu halten, mit dessen Verleihung weiterhin auch neue Freunde gleich an dem gesamten Bunde teilhaben könnten, wählten wir den Polarstern zu unsrem Sinnbilde, und es wurden Siegelringe angefertigt, die mit dem Stern die griechische Bezeichnung τό τοῦ πόλου ἄστρον enthielten. Ein Geheimnisbild von August Wilhelm Schlegel, welches[136] dieser aus Franz Baaders »Pythagoreischem Quadrat« entlehnt hatte und worin Religion, Sittlichkeit, Poesie und Wissenschaft mit den vier Himmelsgegenden verknüpft werden, die Wissenschaft aber dem Norden entsprechen soll, hatte uns den Nordstern wählen lassen, als welcher auch die andern Richtungen zu bestimmen helfe. Ich empfing den Ring als Geschenk von Koreff, Chamisso und Lafoye mit beiderseitiger Freudigkeit und Rührung. Wir siegelten fortan alle unsre Briefe mit diesem Zeichen, fügten die Buchstaben τ. τ. π. α. überall unsrer Namensunterschrift bei, und selbst zum Anruf und Gruße gebrauchten wir die uns angenehm tönen den Worte gleich maurischen Erkennungslauten. Die Sache ging nicht weiter und wurde neben ihrem Ernst auch häufig zwischen uns im Scherz betrieben; nach außen aber gab sie uns bisweilen das Ansehn einer geheimnisvollen Gesellschaft, die für bestimmte Zwecke arbeite.

Im Frühjahr 1804 sah Berlin bedeutende literarische Gäste ankommen. Schillers Anwesenheit erregte große Bewegung, nicht nur in allen Gesellschaftskreisen bemühte man sich um ihn, auch im Theater und auf der Straße vor seiner Wohnung schallte ihm der Jubel entgegen. Leider hab ich ihn nicht gesehen; ich war grade verstimmt und mochte die Gelegenheit, die ich besonders bei Fichte sehr gut finden konnte, nicht aufsuchen. Ebenso entging mir Frau von Staël, von der allgemein gesprochen wurde und die uns schneller, als ihre Absicht war, wieder entschwand, weil sie die Nachricht von der lebensgefährlichen Krankheit ihres Vaters empfangen hatte. Sie entführte Schlegeln mit sich nach der Schweiz, was wir nicht umhinkonnten ihr zur Ehre zu rechnen, obgleich wir es ihm verdachten. Ungefähr in dieser Zeit kam auch Johann von Müller von Wien, um in Berlin eine höchst liberale Anstellung zu genießen und der Geschichtschreiber Friedrichs des Großen zu werden. Auch diese Erscheinung machte Aufsehn, und der Name klang uns bedeutungsvoll entgegen, wenn auch wenigstens mir der Mann selbst damals noch nicht bekannt wurde.[137]

Noch ehe der Sommer kam und bevor die Freunde sich dahin und dorthin nach ihrem Berufe zerstreut hatten, schien auch für mich die Notwendigkeit eines Entschlusses zur Änderung meiner Lage sich dringender aufzustellen. Einerseits waren mir neue Lockungen, Entwürfe und Aussichten zum Studieren geworden, andrerseits mußte ich mein bisheriges Verhältnis als völlig unterhöhlt erkennen; ich konnte meiner Arbeit auf diesem Boden täglich weniger Frucht und Gedeihen versprechen, auch seine Lebensblüten für mich waren abgeblüht und schienen keiner Erneuung fähig, und endlich durfte ich mir die steigende Gefahr von Ausbrüchen nicht verhehlen, welche bisher nur durch ängstliche und rücksichtsvolle Wachsamkeit waren vermieden worden, aber trotz aller Vorsicht doch unvermutet ihren Augenblick finden und dann zwischen Herrn Cohen und mir plötzlich alles enden konnten. Von dieser Lage der Sachen durchdrungen, besprach selbst Madame Cohen mit inniger Teilnahme die Möglichkeit einer andern und besseren Zukunft für mich, als mir in der gegenwärtigen Bahn zu erwarten sein konnte. Jedoch drängte grade nichts zur Eile, alles ging im täglichen Geleise ruhig fort, es bedeckte den innern Widerstreit sogar ein täuschender Anschein von fröhlicher Zufriedenheit; bei einem italienischen Sprachmeister hatten Herr Cohen und ich heimlichen Unterricht, um später glänzend mit der neuen Kunde zu überraschen; es war vielfach davon die Rede, das Schauspiel »Was ihr wollt« nach Schlegels Übersetzung aufzuführen; musikalische Vergnügungen wurden nicht verabsäumt, und sich das Leben angenehm zu machen, hatte man auch sonst noch allerlei Betrieb. Daß Madame Bernhard erkrankt war und seit Monaten mit krampfhaften Anfällen und neben wirklichen auch mit eingebildeten Leiden zu ringen hatte, durfte keine zu große Störung in dem gewohnten Lebenszuge sein und gab nur der Tochter Mühen und Sorgen, zu deren Erleichterung sie ihre Schwester anrief.

Doch mittlerweile war im stillen ein Verderben reif geworden,[138] welches schon längst am tiefsten Innern dieser Zustände gezehrt hatte und jetzt sich anschickte, die dünne Oberfläche zu durchbrechen, welche nur noch von Täuschungen bekleidet war. Von dieser Seite war denn auch meinen Verwickelungen unerwartet die Lösung bereitet, die in jedem Fall auch aus ihnen selbst erfolgen zu müssen schien, nur daß zweifelhaft bleibt, zu welchem bestimmten Zweck und mit welcher Wendung dies ohne jene besondre Schickung geschehen sein würde.

Mitten im Laufe der vergnüglichen Tage zeigte sich plötzlich die heitre Laune des Hausherrn gewichen und an ihrer Statt verdrießliche Befangenheit; die Mißstimmung dauerte am nächsten Tage fort, und zugleich wurde von früh bis spät auf dem Komtoir mit ungewöhnlicher Beeiferung gearbeitet. So war es auch die folgenden Tage; Neumann hatte keinen Augenblick frei; mit Freunden von bewährten kaufmännischen Kenntnissen fanden langwierige Beratungen statt, und es blieb endlich auch mir nicht verhehlt, daß das Haus in Gefahr sei zu stürzen und seine Zahlungen werde einstellen müssen. Der Schrecken und die Verwirrung, welche dieser Entdeckung folgten, sind nicht zu beschreiben. Madame Bernhard, deren ganzes Vermögen bedroht war, wurde von dem Schlage fast gesund, wenigstens verließ ein Teil ihrer Übel sie von dem Augenblick; Frau von Boye, die schon der kranken Mutter wegen hatte kommen sollen, kam nun um so eiliger von Stralsund herbei, auch ihre Habe, die jetzige und künftige, stand auf dem Spiel. Jetzt enthüllte sich Zug um Zug ein immer größeres Verderben. Die Handlungsbücher waren in Unordnung; es bedurfte vieler Zeit und Mühe, um nur zu einer klaren Übersicht zu gelangen. Hätte man diese von Anfang gehabt, so wäre noch vieles zu retten gewesen, allein es herrschte vielmehr bis ans Ende die wahnsinnigste Verblendung. Herr Cohen hatte sein Geschäft gleich seinem geselligen Wesen betrieben, mit Einbildung, Unwissenheit, Leichtsinn und Täuschung. Er hatte aus Holland kein Vermögen mitgebracht,[139] sondern Schulden, das Vermögen seiner Frau, der Mutter und Schwester derselben und einiger Fremden war die alleinige Grundlage eines Unternehmens, das den Schein eines fünfmal größeren Reichtums geben sollte, und in diesem Verhältnisse waren auch die Ausgaben. In weichlichem, eitlen Genusse des Tages hatte er sich über den Zustand und Ertrag der Fabrik willkürlichen Vorstellungen überlassen, und um diese desto sichrer zu behalten, weder selbst auf den Grund sehen wollen noch andern einen solchen Blick gestattet. Auch bei schon eingetretener Verlegenheit und als die nötigen Gelder zu fehlen anfingen, beharrte er in diesem strafbaren Selbstbetrug, wollte sich und andern aus Schwäche und Eitelkeit den Umfang des Übels ableugnen und handelte noch stets in dem Sinne, als sei die Grundlage gut und fest und als komme es nur darauf an, eine vorübergehende Stockung mit geringen Opfern zu heben. Auf diese Weise bewirkte er, daß seine Frau, die ein Vermögen von 100000 Talern als Eingebrachtes vor allen andern Gläubigern zu fordern hatte, nach und nach die größten Summen, und endlich alles, zur Deckung der am stärksten herandrängenden Gläubiger verschrieb, immer nicht einsehen wollend, daß das Flickwerk schon für morgen nicht mehr ausreichen könnte und der Riß schon unheilbar das Ganze durchdrang. Die Hoffnung, daß der Staat ein Unternehmen, wobei er selbst beteiligt, nicht würde fallenlassen, schlug fehl; vermeinte Gönner zeigten sich als Feinde, und Herr Cohen mußte erfahren, daß er durch sein bisheriges Treiben mehr Achtung und Zuneigung verscherzt als gewonnen habe. Auch seine sonstige Unwissenheit kam jetzt schrecklich an den Tag; der große Mathematiker, der von der höheren Analysis wie von einer Kleinigkeit zu sprechen pflegte, konnte der Schmach nicht entgehen, wegen einer gewöhnlichen Teilungsrechnung, mit der er auf keine Weise fertig werden konnte, in Gegenwart der Familie, freilich unter verzweiflungsvollen Kämpfen der sterbenden Lüge, den Rechenmeister seiner Kinder herbeirufen zu müssen,[140] der als tüchtiger Mathematiker allgemein bekannt, doch bisher vor den höheren Einsichten des Mannes sich hatte beugen sollen. Auftritte der Erbärmlichkeit und hinwieder der Leidenschaft traten hier ein, die ich nicht zu schildern unternehme. Das Unglück offenbarte sich endlich ganz. Für Frau von Boye, von der ich, durch den Stand der Sachen und das Benehmen, welches sie in dieser Spannung zeigte, mehr und mehr mich geschieden fühlte, wurden einige Kapitalien gerettet, für Madame Cohen nichts, und Madame Bernhard verlor alles. Die Wechselgläubiger drangen heran und setzten den Schuldner unter Bewachung, seine Abführung ins Gefängnis war schon festgesetzt. Noch wurden törichte Opfer gebracht, um nutzlose Fristen zu gewinnen. Für den Mann selbst war nichts mehr zu hoffen als langwieriges Gefangensitzen, ihm und den Seinigen nur zu täglich erneutem Jammer; für die Sache war grade seine Gegenwart das sichtbarste Unheil, das mit jedem Tage sich als solches noch mit frischer Tätigkeit bewies. Unter diesen Umständen rieten wir alle, die im Rat und Geheimnis waren, zur Flucht. Sie wurde im letzten Augenblicke, da sie noch eben möglich war, beschlossen und ausgeführt. Neumann mußte den jetzt völlig Verzagten bis über die Grenze begleiten und kehrte dann zurück. Herr Cohen aber gelangte glücklich nach Holland, wo seine Verwandten ihn aufnahmen. Er wußte sich dort bald wiederum, nur nach kleinerem Maßstabe, sein Leben in eitle Geschäfte und genießenden Müßiggang zu teilen, gab sich gleichen Einbildungen hin und übte gleichen Trug; und eben jetzt, da ich dies schreibe, nach 28 Jahren, hat der elende Greis dort einen gleichen Bankrott verübt, wegen dessen er abermals flüchtig werden mußte und durch den wiederum zumeist die Seinigen, und darunter sein ältester Sohn, den er als verzogenen Liebling bei sich hatte, ihre geringe Habe eingebüßt!

Seine Flucht entzog ihn dem Gefängnisse, aber nicht den Steckbriefen der Gerichte, die auch den Prozeß wegen mutwilligen[141] oder gar betrüglichen Bankrotts einleiteten. Der Untergang eines noch vor kurzem so blühenden Hauses, des Sammelplatzes und Anhalts so vieler Beziehungen, die Verarmung der dazugehörigen bis dahin reich geschienenen Familien, war nun entschieden und unaufhaltsam. In der Folge der einzelnen Tage und Begegnisse dies mitzumachen war furchtbar und von durchaus tragödienhaftem Eindruck. Ich hatte mit allen Kräften, seit dem Beginn der Krisis, die lebhafteste Teilnahme auf alle Weise betätigt, in die Geschäfte schreibend und redend eingegriffen, persönlich manches ausgeführt oder vertreten, und mir blieb daher von dieser schrecklichen Erfahrung kein Teil erspart. Der Gegensatz des noch äußerlich fortdauernden Scheins und der Gewißheit einer Wirklichkeit, die unabwendbar an die Stelle treten mußte, war schneidend. Noch wohnten die Zurückgebliebenen in dem Palast, in den schönen Zimmern, umgeben von dem gewohnten Hausgeräte, das aber größtenteils durch Versiegelung dem Gebrauch schon entzogen war, derselbe Garten stand noch offen, die Roßmühle trieb ihr gewohntes Getöse, die Spinnmaschinen rauschten auf und nieder, die Fabrikleute zu Hunderten kamen und gingen, und alle äußere Lebhaftigkeit dauerte fort wie sonst, aber im Innern war Trübsal und Öde, schon gehörte dies alles nicht mehr den früheren Besitzern, sondern fremden Gläubigern, und die Gerichte führten die Verwaltung. Kaum auf einige Monate war Aussicht, hier nur noch wohnen zu dürfen, und für mich nicht einmal so lange. Denn Madame Cohen hielt mit Recht für ganz unstatthaft, daß in der verarmten Familie, welche grade jetzt die vielfachsten Rücksichten zu nehmen hatte, ein Hauslehrer bliebe; denn daß dieser uneigennützig nur eine jetzt doppelt erwünschte Stütze und noch immer der wohlfeilste Unterricht den Kindern sein würde, war nicht für jedermann sogleich offenkundig noch wahrscheinlich.

Nach einigem Ratschlagen und Überlegen schied ich aus dem Hause, nicht ohne den innigsten Schmerz; denn die[142] teuersten Erinnerungen und die treuste Anhänglichkeit hielten mich ihm auf immer verknüpft. Ich zog zu Chamisso, der mir gastliche Zuflucht angeboten hatte. Meine Mittel waren äußerst beschränkt, ich mußte selbst für die Zwischenzeit, bevor ich einen weiteren Beschluß fassen konnte, auf Erwerb denken. Ein paar begehrte Aufsätze für eine Monatschrift, die in Hamburg erschien, konnten nur unbedeutendes Honorar bringen, die Hauptsache sollten Unterrichtsstunden tun.

Die freie Zeit benutzt ich nach Herzenslust. Ich war jeden Tag im Cohenschen Hause, gewöhnlich abends, und auch Chamisso bezeigte der Familie treue Anhänglichkeit. Dort sahen wir in dieser Zeit den von Brockes und Lippe empfohlenen Heinrich von Kleist, einen liebenswürdigen, begabten jungen Mann, der sich uns freundschaftlich anschloß, aber sorgfältig noch verhehlte, daß er schon als Dichter aufgetreten und Verfasser des Trauerspiels »Die Familie Schroffenstein« sei, und überhaupt den Genius und die Kraft noch nicht verriet, durch die er sich nachher berühmt gemacht; er gab sich nur als einen anteilvollen Strebenden und schrieb mir in solchem Sinne in mein Stammbuch:

Jünglinge lieben ineinander das Höchste der Menschheit, denn sie lieben in sich die ganze Ausbildung ihrer Naturen schon um zwei oder drei glücklicher Anlagen willen, die sich eben entfalten. Wir aber wollen einander gut bleiben.

Heinrich Kleist.


Inzwischen konnte ich mir nicht leugnen, daß ich mich in einem zwecklosen und wenig fruchtbaren Lebensgange befand. Die mir nötigsten Studien lagen brach, meine Tage verwilderten, und so fand ich mich überall in unbequemer Enge, was selbst meine Kleider mir zu bezeugen anfingen; die Unterrichtsstunden mehrten sich nicht, und der geringe Ertrag reichte für die täglichen Bedürfnisse nicht hin. Die Anerbietungen Chamissos, auch seinen Tisch mit mir zu teilen, durft ich nicht annehmen, ebensowenig hätte ich die offne Aufnahme in der Cohenschen Familie zu diesem Zweck[143] auch nur gebrauchen, geschweige denn mißbrauchen mögen, und so fand ich mich überall beengt und gestört. Fichte, nachdem er mich scharf gefragt, ob ich mir genug Mut und Entsagung zu dem allerdings heroischen Unternehmen zutraue, machte mir den Vorschlag, in das strenge und kärgliche, aber meine Lage notdürftig sichernde, meinen Studien gewiß heilsamste Verhältnis eines Schülers an der Fürstenschule zu Pforta einzutreten; er selbst war dort erzogen worden; Griechisch und Lateinisch, meinte er, würde ich dort aus dem Grunde lernen. Ich sagte mit Freuden ja, und er schrieb sogleich an den Rektor Ilgen. Allein die Antwort fiel verneinend aus, die Freistellen waren nur für sächsische Landeskinder und auch andre Umstände nicht entsprechend. Während nun allerlei Plane und Zweifel sich bei mir durchkreuzten, meine Freunde in Hamburg und Berlin noch hofften, mir für die Universität hinlängliche Stipendien zu verschaffen, und ich bald Schüler, bald Lehrer werden sollte, denn auch an einer Pensionsanstalt in Berlin bot man mir ein festes Verhältnis an, ich aber um so weniger einen Entschluß fassen konnte, als zur glücklichen Zeit eingegangenes Honorar wieder freieren Spielraum gab; in dieser Stimmung und Lage empfing ich unerwartet den Antrag zu einer neuen Erzieherstelle in Hamburg, bei dem reichen jüdischen Bankier Hertz. Die Familie war Ebertyn und auch Marianen Saaling verwandt, und jener war abermals der tätigste Vermittler. Die Verhältnisse waren von allen Seiten höchst günstig und reizend, die äußern Vorteile überstiegen alles, was in Berlin als möglich zu denken war; unter solchen Bedingungen konnten ein paar Jahre mir schon die Mittel zur Freiheit der folgenden gewähren. Ein angeknüpfter Briefwechsel bestätigte alle Verheißungen und überbot sie noch. Wenn ich nicht in Berlin bleiben oder nach Halle gehen konnte, so war mir der Gedanke, in Hamburg zu leben, noch am liebsten. Mutter und Schwester waren mir dort und liebe Freunde. Fichte, Madame Cohen, Nolte und andre Freunde redeten mir eifrig zu, und ich ging den Vorschlag[144] ein. Man erwartete mich in Hamburg mit Ungeduld. Schmerzlich nahm ich Abschied von der Cohenschen Familie, von den lieben Zöglingen, den teuern Freunden, von Fichte, der mir eine Empfehlung an Klopstock, den Bruder des Dichters und Oheim der Fichtin, mitzugeben nicht unterließ, und so reiste ich gegen Ende des Monats August meinem neuen Schicksale zu.

Quelle:
Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens. Berlin 1971, S. 118-145.
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